Hayes Carll – You Get It All – CD-Review

Review: Michael Segets

Der mehrfach ausgezeichnete Hayes Carll bringt nach zwei Jahren den Nachfolger zu „What It Is“ heraus. „You Get It All“ knüpft nahtlos an seine vorherige Scheibe an. Sie bietet wieder feine Songs mit sensiblen Texten, die mehrmals mit einer Prise scharfzüngigem Humor gewürzt sind. Insgesamt gelingt Carll ein Album, das das hohe Niveau noch konstanter als der Vorgänger hält. Einen Vergleich mit Musikern wie John Prine, Hank Williams, Jr. oder Randy Travis braucht er nicht zu scheuen.

Carll sieht seine musikalischen Wurzeln im Country, was am Anfang der CD augenfällig wird. Der zusammen mit den Brothers Osborne geschriebene Opener „Nice Things“, der Titeltrack mit besonders eingängigem Refrain oder auch das klassisch anmutende „Any Other Way“ zeigen, dass er die Spielregeln des Genres beherrscht. Er performt die Stücke erdig, gradlinig und locker heraus. Vor allem in der ersten Hälfte des Longplayers kommen Geige und dezenter Slide zum Einsatz. Dabei trifft Carll genau das richtige Maß.

Im hinteren Abschnitt des Albums setzt der Texaner dann verstärkt auf die Begleitung durch das Klavier („If It Was Up To Me“), teilweise ergänzt durch eine Orgel („The Way I Love You“), oder arrangiert einzelne Tracks etwas opulenter („Leave It All Behind“). Insgesamt dominieren die Balladen auf dem Werk. Textlich bewegend ist „Help Me Remember“. Aus der Perspektive eines an Demenz leidenden Mannes schildert er dessen Ängste und seinen Kampf um Identitätswahrung. Musikalisch bringt das Duett mit Brandy Clark, die „In The Mean Time“ mitkomponierte, Abwechslung.

„To Keep From Being Found“ überrascht durch seinen rockigen Einschlag. Der Country-Rocker im Geist der 80er mit Bar-Piano und flotter elektrischer Gitarre unterbricht die eher getragene Stimmung der Balladen. Eine expressive E-Gitarre hört man auf dem bluesigen „Different Boats“. Zu den Highlights des Albums zählt sicherlich der Outlaw-Country „She’ll Come Back To Me“. Nach der atmosphärischen Einstimmung durch eine akustische Gitarre setzt ein stampfender Rhythmus ein, der ins Blut geht. Die Geigen-Passage erinnert leicht an den Soundtrack von Gangstagrass zu der Fernsehserie „Justified“.

Bei manchen Songs können Ähnlichkeiten hinsichtlich des Songwriting-Stils mit Steve Earle ausgemacht werden. Der Vergleich mag vielleicht auf wenig Gegenliebe bei Carll stoßen, da seine Ehefrau Allison Moorer, die die CD co-produzierte und auch bei „If It Was Up To Me“ beteiligt war, dessen ehemalige Partnerin war. Aber der Hardcore-Troubadour ist ja musikalisch keine schlechte Referenz.

Mit „You Get It All“ lässt Hayes Carll dem vorangegangenen „What It Is” ein mindestens ebenbürtiges Werk folgen. Zwischen Country und Americana spielt Carll seine Stärken aus, die in seinem Songwriting sowie in den pointierten Texten liegen. Die Melodien scheinen ihm mühelos von der Hand zu gehen. Die Titel wirken selbst bei schweren Themen unverkrampft und unverstellt.

Dualtone Records (2021)
Stil: Americana, Country

Tracks:
01. Nice Things
02. You Get It All
03. Help Me Remember
04. Any Other Way
05. Different Boats
06. In The Mean Time
07. She’ll Come Back To Me
08. To Keep From Being Found
09. Leave It All Behind
10. The Way I Love You
11. If It Was Up To Me

Hayes Carll
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Oktober Promotion

Brothers Osborne – Skeletons – CD-Review

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Review: Michael Segets

Seitdem die beiden Brüder John und T. J. Osborne von Maryland nach Nashville übergesiedelt sind, schwimmen sie auf einer Erfolgswelle. Ihr Debüt „Pawn Shop“ (2012) spielte Gold ein und einige Singles verzeichnen sogar Platin-Status. Für ihr zweites Album „Port Saint Joe“ erhielten sie eine von bisher sechs Grammy-Nominierungen. Mit dem aktuellen Longplayer „Skeletons“ treten die Brüder nun an, um den Erfolg fortzusetzen.

Dafür setzen die Osbornes auf starke Medienpräsens. Nachdem die Tour im Sommer, die sie zusammen mit George Strait sowie Chris Stapleton planten, Corona zum Opfer gefallen ist, promoteten sie die erste Single „All Night“ in mehreren Auftritten und spielten mit Brandi Carlile, Miranda Lambert, Little Big Town und Brooks & Dunn.

„All Night“ stieg dann auch direkt in die Country-Charts ein. Der poppig-rockige Song bekommt durch die Stimme von T. J. einen rootsigen Country-Touch. Als moderne Vertreter des New Country zeigen sich die Brothers Osborne sowieso offen für Pop- und Rock-Elemente. In Richtung Pop geht „Hatin‘ Somebody“, dessen Ende in einer längeren Instrumentalpassage gipfelt. Zum Rock schlägt die Nadel beim Opener „Lighten Up“ und bei „All The Good Things Are“ aus.

Neben dem gefälligen „High Note“ und der voll instrumentierten Ballade „Make It A Good One“ zeigen die Geschwister, dass sie auch Songs mit Ecken und Kanten schreiben können. Richtig aufs Tempo drückt das energiegeladene „Dead Man’s Curve“. Das kurze Instrumentalstück „Muskrat Greene“ wird durch eine Kombination von einer Honky-Tonk-Gitarre auf Acid und aufgekratztem Piano getrieben.

Diejenigen, die es etwas Country-lastiger mögen, kommen mit „Back On The Bottle“ auf ihre Kosten. Der Rhythmus wechselt im Refrain in einen schunkeligen Dreivierteltakt, wodurch das Stück zusammen mit den rockig gehaltenen Gitarren einen hohen Wiedererkennungswert erhält. „Old Man’s Boots“ ist eine erdige Ballade, bei der die Osbornes die Begleitung etwas zurücknehmen. Der Song mit dezentem Slide bildet den unverkrampften Abschluss der Scheibe.

Die beiden aus meiner Sicht besten Stücke des Werks spiegeln die Varianz der Brothers Osborne wider. „I’m Not For Everyone” steht für die eingängigen, radiotauglichen Melodien, „Skeletons” für die kraftvollere Seite des Duos. Vor allem der stampfende Rhythmus und die staubige Gitarre verströmen beim Titeltrack eine aggressive Atmosphäre.

Beim Songwriting holten sich die Brothers Osborne Unterstützung von Lee Miller, Craig Wiseman, Natalie Hemby und Casey Beathard, die sich in der Nashville-Szene bereits einen Namen machten. Der Produzent Jay Joyce sorgte für den vollen und sehr klaren Sound von „Skeletons“.

Mit ihrem dritten Album bekommen die Brothers Osborne das Kunststück fertig, mainstreamtaugliche Songs und rauere Kompositionen so zu verbinden, dass kein Bruch entsteht. „Skeletons“ klingt einerseits an die Vorlieben des breiten Publikums angepasst und andererseits dennoch individuell. Es bleibt daher nicht verwunderlich, dass sich die Singles des Duos tendenziell besser verkaufen als die Alben. Die Innovationen fallen insgesamt moderat aus, aber die jungen Männer beleben mit ihnen durchaus die New-Country-Sparte.

EMI Nashville/Universal Music (2020)
Stil: New Country

Tracks:
01. Lighten Up
02. All Night
03. All The Good Ones Are
04. I’m Not For Everyone
05. Skeletons
06. Back On The Bottle
07. High Note
08. Muskrat Greene
09. Dead Man’s Curve
10. Make It A Good One
11. Hatin’ Somebody
12. Old Man’s Boots

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Oktober Promotion

Brothers Osborne – Pawn Shop – CD-Review

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Tolles, in Nashville mit viel Vorschuss-Lorbeeren bedachtes Debütalbum der Brothers Osborne. Der mit einer prächtigen Stimme gesegnete T. J. Osborne (variiert irgendwo zwischen Radney Foster und Trace Adkins – spielt auch akustische Gitarre) und der großartige Gitarrist und Multi-Instrumentalist John Osborne (neben der E-Gitarre u. a. auch Mandoline, Banjo, Pedal Steel, Mundharmonika), aka Brothers Osborne, legen mit „Pawn Shop“ ein bärenstarkes Major Label-Debut vor.  Brothers Osborne – Pawn Shop – CD-Review weiterlesen