Review: Michael Segets
Ryan Bingham befindet sich zuletzt in einem eher langsamen Veröffentlichungsmodus. Vier Jahre liegen zwischen „Fear And Saturday Night“ (2015) und „American Love Song“ (2019). Nach weiteren vier Jahren meldet er sich nun mit der EP „Watch Out For The Wolf“ zurück. Untätig war er in der Zwischenzeit aber nicht, so spielte er bei der Fernsehserie „Yellowstone“ eine Nebenrolle und steuerte zusammen mit Nikki Lane einen hervorragenden Beitrag zum Tribute für Billy Joe Shaver bei.
Entstanden ist sein aktuelles Werk in der Einsamkeit einer Berghütte in Montana. In diese hatte sich Bingham mit zwei Gitarren, Mandoline und Keyboard zurückgezogen. „Watch Out For The Wolf“ lässt sich als musikalische Version eines Selbstfindungstrip a la „Into The Wild“ verstehen. Zurückgeworfen auf sich allein sind so sieben Songs fernab jeglicher Lagerfeuerromantik entstanden. Bingham spricht davon, in der Abgeschiedenheit der Natur emotionale und spirituelle Erfahrungen gemacht zu haben, die ihn veränderten. Jenseits des persönlichen Wertes eines solchen Experiments, überzeugt auch das musikalische Ergebnis fast durchgängig.
Im Opener „Where My Wild Things Are“ thematisiert er den Rückzug in die Natur, bei dem die Lasten der Vergangenheit zwar mitgetragen werden, aber in weite Ferne rücken. Mit einem gleichmäßigen Rhythmus rollt der Song vor sich hin, getragen von Binghams sonorem Gesang. Dabei entwickelt er eine Aufbruchsstimmung, die langen Autofahrten eigen ist. „Shivers“ erscheint ebenfalls atmosphärisch dicht, nicht zuletzt, weil Bingham hier viel Leid in seine Stimme legt. Es erzielt mit Hilfe des Keyboards eine hypnotische Wirkung und erinnert an die letzten Scheiben von Paul Cauthen. Mit den elektronischen Klängen übertreibt Bingham etwas bei „Automated“. Zwar ähnlich wie die beiden anderen angelegt, spricht der Track mich überhaupt nicht an. Dass der Rhythmus aus der Retorte stammt, fällt bei ihm besonders auf. Ein echtes Schlagzeug hätten den Songs insgesamt sicherlich gut getan. Ob aber Bingham Schlagzeug spielen kann, weiß ich nicht, und zudem wäre es ein logistisches Problem geworden, dieses in die Waldhütte zu schaffen.
Nach dem eher getragenen Einstieg in die EP setzt das rockige „Instrumental“ eine Zäsur. Danach folgen zwei starke Titel, bei denen Bingham zur Mandoline greift. Beim Aufbau des country-rockigen „River Of Love“ kommt Steve Earle als Vergleichspunkt in den Sinn. Während Bingham hier seine elektrische Collins-Gitarre sprechen lässt, steht bei „Devil Stole My Style“ eine alte Gibson im Zentrum der Begleitung. Er setzt bei dem Stück einen Hall-Effekt ein, sodass der Song nicht als rein akustisch gelten kann. Der Hall intensiviert dabei die Wirkung von Binghams ausdrucksstarkem Gesang.
Den Abschluss bildet „This Life“, mit dem „Watch Out For The Wolf” inhaltlich zu einem optimistischen Ende geführt wird. Bingham setzt hier mit seinen Pfeifeinlagen einen Akzent und greift damit ein Element des ersten Song wieder auf. Der Konzeptcharakter der EP wird damit unterstrichen.
Insgesamt kann das Soloprojekt „Watch Out For The Wolf” von Ryan Bingham als ein gelungenes Experiment bezeichnet werden. Mit Gitarren, Mandoline und Keyboard ausgerüstet spielte er im Alleingang in der Abgeschiedenheit einer Waldhütte sieben Songs ein und übernahm auch deren Produktion sowie die Abmischung. Die EP zeigt also Bingham pur, wobei er sich nicht allzu weit von seinen bisherigen Veröffentlichungen entfernt.
The Bingham Recording Company/Thirty Tigers/Membran (2023)
Stil: Americana
Tracks:
01. Where My Wild Things Are
02. Automated
03. Shivers
04. Instrumental
05. River Of Love
06. Devil Stole My Style
07. This Life