Review: Michael Segets
Thomas Kraft zieht in „Americana. Ein zerrissenes Land im Spiegel der Country Music“ Verbindungslinien zwischen Country Music und nationaler Identität der Vereinigten Staaten von Amerika. In dem Buch finden viele Musiker_innen Erwähnung, die in der Interpretenskala von Sounds-of-South vertreten sind, sodass es für unsere Leser_innen bereichernd sein könnte. Die Anregung für die erste Buch-Rezension bei SoS gab Andreas Reiffer, in dessen Verlag das Werk am 27.09.2024 erscheint.
Musik muss nicht politisch sein, aber ihre Entstehung ist stets durch den kulturellen und gesellschaftlichen Kontext geprägt. Offensichtlich wird die Verbindung von Musik und Politik, wenn sich die Künstler_innen öffentlich zu politischen oder gesellschaftlichen Problemen äußern oder solche Themen in ihren Texten verarbeiten. Für Politiker_innen wird die Musik interessant, wenn sie deren Popularität für ihre Zwecke instrumentalisieren können. Dass sich die Urheber_innen dagegen wehren, zeigen die zahlreichen Unterlassungsklagen gegen Trump, der ohne Zustimmung Musiktitel in seinem Wahlkampf einsetzt. Kraft zeichnet im ersten Kapitel seines Werks einige Skandale und Kontroversen nach, die im Spannungsfeld von Politik und Musik – speziell der Country Music – in den letzten Jahren aufflammten. Dabei reichen die Beispiele von den Dixie Chicks, den heutigen The Chicks, über Jason Aldeam bis zu Taylor Swift. Gefüllt mit hierzulande kaum wahrgenommenen Hintergrundinformationen bemüht sich Kraft um die Darstellung mehrerer Perspektiven. Deutlich wird dabei, dass die Country-Szene nicht nur in Bezug auf politische Ansichten, sondern auch hinsichtlich der dahinter stehenden Werte gespalten ist.
Eine zentrale Frage wird im zweiten Kapitel, in dem eine Analyse der gesellschaftlichen Situation in den Vereinigten Staaten von Amerika erfolgt, aufgeworfen: „Hat das Land seinen moralischen Kompass verloren?“ (S. 39) Diese Frage stellt sich nicht erst seit der Präsidentschaft von Trump, tritt seitdem aber immer offener zutage. Eine grundlegende These des Autors ist, dass Brüche in der nationalen Identität der USA bestehen, die historische Wurzeln haben. Obwohl sich die Vereinigten Staaten Freiheit und Demokratie auf die Fahnen schreiben, sieht die gesellschaftliche und soziale Realität anders aus. Der Umgang mit der indigenen Bevölkerung während der Kolonalisierung des Kontinents oder die Sklaverei haben Spuren hinterlassen, die bis heute nachwirken. Wie Kraft diagnostiziert, durchziehen tiefe Gräben die amerikanische Gesellschaft, die unter anderem in der Kluft zwischen arm und reich offensichtlich werden.
In weiten Teilen der Bevölkerung besteht ein Gefühl der Unsicherheit, der Benachteiligung oder gar der Existenzbedrohung sowie das Bedürfnis nach Orientierung in einer komplexen Welt. Damit geht ein Rechtsruck in der Gesellschaft einher. Der Ruf nach einem starker Mann, der Klarheit im Sinne einfacher Wahrheiten schafft und Sicherheit verspricht, wird nachvollziehbar. Kraft kommt zu dem Schluss, dass das Phänomen Trump erst aufgrund der existierenden Polaritäten möglich wurde, die er zugleich schürt. Für den Autor stellen sich die Vereinigten Staaten von Amerika als ein gespaltenes Land dar, dessen Risse sich in mehreren Dimensionen und damit auch in der Musik zeigen.
Vor dem Hintergrund dieser Gesellschaftsanalyse widmet sich Kraft in dem folgenden, umfangreichsten Kapitel des Buches wieder der Country Music. Er unterscheidet mehr als zwei Dutzend Spielarten des Country, die er unter dem Sammelbegriff „Americana“ zusammenfasst. Unabhängig davon, ob man alle angeführten Richtungen der Country Music oder dem Americana zuordnen möchte, verdeutlichen die Ausführungen, dass diese kein homogenes Bild abgibt. Der klassische Country, der in ländlichen Regionen seinen Ursprung fand, ist heute nur noch eine Sparte unter anderen. Er dreht sich thematisch um das Leben der arbeitenden Bevölkerung mit ihren mehr oder weniger alltäglichen Problemen. Als traditionelle Volksmusik ist er „weiß, männlich, patriotisch“ (S. 69).
Indem Kraft den Einfluss einzelner Musiker_innen auf den Country in lebendig geschilderten Episoden und Zitaten schildert, verfolgt er dessen Wandlungen und Entwicklungen. Dabei spannt er einen Bogen beginnend in den 1920ern bis in die Gegenwart. Die Verbindungen zum Rock in den sechziger Jahren sowie gesellschaftliche Faktoren wie die Friedens- und Protestbewegung vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges brachten neue Impulse in die Country Music, sodass sich spätestens seitdem die Frage stellt, was noch Country ist und was nicht. „Die Musiker hat diese Frage meist nicht interessiert. Sie wollen kreativ sein, experimentieren und neue Stilrichtungen ausprobieren.“ (S. 126) Gleiches gilt für Künstler_innen, die eher nicht aus der Country-Ecke kommen, aber deren Tradition aufgreifen und verarbeiten. Die Country Music verliert damit endgültig ihre klaren Abgrenzungen und differenziert sich aus, sodass Kraft den Oberbegriff „Americana“ für angemessen hält, um die Facetten neben dem klassischen Country zu erfassen.
Der Autor geht unterschiedlichen Spielarten nach und weist Verknüpfungen zu anderen Musikrichtungen auf, wobei er diese Entwicklungen unter den jeweiligen sozialen und gesellschaftlichen Aspekten im historischen Kontext beleuchtet. Seine Ausführungen sind gespickt mit vielen Details und Querverbindungen. So enthält das Buch auch eine Vielzahl von Informationen, die für die meisten Leser_innen wohl neu sind. Wer hätte gewusst, dass das „erste offen schwule Country-Album der Welt“ (S. 193) von Lavender Country bereits im Jahr 1973 veröffentlicht wurde?
Die Ausführungen machen deutlich, dass die Country Music nicht per se für ein tradiertes, typisch amerikanisches Wertebewusstsein steht. Sie widmet sich auch kritisch und progressiv gesellschaftspolitischen Fragen. Um die Verbindung zwischen Gesellschaft und musikalischer Offenheit zum Ausdruck zu bringen, wählt Kraft den Begriff „Americana“. Kraft beendet seine Ausführungen mit dem Appell in Richtung der Vereinigten Staaten von Amerika – und vielleicht auch in Richtung sämtlicher Country-Fans –, Co-Existenz und Vielfalt nicht als Bedrohung, sondern als Chance zu sehen und Freiheit tatsächlich ernst zu nehmen.
Dem weiten Begriff „Americana“ folgend stellt der Verfasser zum Abschluss eine Empfehlungsliste von rund 500 Alben mit Anspieltipps zusammen. Die Liste beginnt mit dem Jahr 1966 und umfasst auch Longplayer, die man vielleicht nicht unmittelbar im Bereich der Country Music verortet hätte. Die meisten Werke werden mit ein bis zwei Sätzen kommentiert. Manchmal fallen die Bemerkungen auch ausführlicher aus. Die Aufstellung bereitet Freude, wenn man bekannte Alben wiederfindet und zudem liefert sie Anregungen zur weiteren Auseinandersetzung und Recherche im weiten Bereich der Country affinen Tonträger. Von den sieben bereits aus dem laufenden Jahr in der Liste verewigten Longplayern sind zumindest zwei – „Chains & Stakes“ von The Death South sowie „Mellow War“ von Taylor McCall – auch bei SoS besprochen. Wünschenswert wäre ein Register über die Musiker_innen und Bands gewesen, um gezielt nachschlagen zu können. Ansonsten gibt es nicht viel an dem Buch auszusetzen. Hervorzuheben sind die vielen Fotographien von Musiker_innen, die den Text begleiten. Sie stammen oft von Helmut Ölschlegel.
Thomas Kraft liefert in seinem flüssig zu lesenden Buch eine Bestandsaufnahme der amerikanischen Gesellschaft und diagnostiziert ihr eine Identitätskrise. Zusammenhänge zwischen Politik, Gesellschaft und Country Music zeichnet er in unterhaltsamer, aber oft nachdenklich stimmender Weise nach. Dabei zeigt sich ein facettenreiches Bild des Country, der eben nicht mehr als die traditionsverbundene Volksmusik der Amerikaner zu betrachten ist. Country Music entwickelt sich, schafft kreative Verbindungen zu anderen Stilrichtungen und greift aktuelle und kontroverse Themen auf. Das Buch regt Musikliebhaber an, den Blick über den Tellerrand zu werfen, und eröffnet eine Perspektive, Country Music als „Americana“ neu zu hören und zu entdecken.
Der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Thomas Kreft ging bereits dem Einfluss literarischer Werke auf die Rockmusik nach. „Rock’n Read. Wie Literatur Rockmusik inspiriert“ erschien ebenfalls im Verlag Andreas Reiffer. Das Programm des seit fünfundzwanzig Jahren bestehenden Verlags legt einen Schwerpunkt auf Veröffentlichungen zur Popkultur und berücksichtigt dabei besonders Titel, die um Musik kreisen. Ein Besuch der Website mag sich daher lohnen.
Kraft, Thomas (2024)
Americana. Ein zerrissenes Land im Spiegel der Country Music
Verlag Andreas Reiffer. 320 Seiten.
Hardcover, mit zahlreichen Fotographien von Helmut Ölschlegel und andern
ISBN 978-3-910335-25-7
25,00 €