Bruce Springsteen – Letter To You – CD-Review

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Review: Michael Segets

Nach seinen Dauerengagement am Broadway und dem letztjährigen Werk „Western Stars“ trommelte Bruce Springsteen die E Street Band wieder zusammen und nahm „Letter To You“ innerhalb von vier Tagen quasi live ohne Overdubs in seinem Heimstudio auf. Herausgekommen ist sein bestes Album seit „Wrecking Ball“ (2012).

Wenn Springsteen seine Stammband mit ins Boot holt, verspricht dies eine rockige Ausrichtung seiner Platten. Diese Erwartung erfüllt „Letter To You“. Der Titeltrack als erste Single sowie das ebenfalls vorab ausgekoppelte, sehr starke „Ghosts“ sind für den Sound des Albums repräsentativ. Dabei lässt der Boss es mal kräftiger („Burnin‘ Train“), mal sanfter rocken („I’ll See You In My Dreams“).

Bereits bei den ersten Durchläufen setzen sich „Rainmaker“ und „Last Man Standing“ in den Ohren fest. Bei den Titeln steigt wie bei „The Power Of Prayer“ nach einem melodiösen Intro die Band wuchtig ein. Die für Springsteen-Kompositionen charakteristischen Saxophon-Einlagen finden sich vor allem bei den beiden letztgenannten Stücken. Sie werden seit 2012 von Jake Clemons gespielt.

Die älteren Mitglieder der E Street Band Roy Bittan, Garry Tallent, Max Weinberg, Stevie van Zandt alias Little Steven, Nils Lofgren und Patty Scialfa sind allesamt dem Ruf des Bosses gefolgt. Neu in der eingeschworenen Gemeinschaft ist Charlie Giordano (Orgel, Backgroundgesang), der zwar seit dem Tod von Danny Federici die Band unterstützte, nun aber als vollwertiges Mitglied in den Credits geführt wird.

Bei der Produktion und der Abmischung setzt Springsteen ebenfalls auf seine bewährten Mitstreiter Ron Aniello und Bob Clearmountain. Auf Streicher verzichtet er diesmal. Bis auf diesen Unterschied hätte der Opener „One Minute You’re Here“ sich auch in das Vorgängeralbum eingefügt. Er ist der einzige Track mit dezenter Instrumentalisierung.

Einige Songtitel kommen bekannt vor. „House Of A Thousand Guitars“ sollte nicht mit dem gleichnamigen Song von Willie Nile verwechselt werden und auch „Janny Needs A Shooter“ unterscheidet sich von „Jeannie Needs A Shooter“, den Springsteen zusammen mit Warren Zevon schrieb. Bis auf einige Textbausteine im Refrain handelt es sich um eine völlig andere Komposition. Volle Orgeln und klasse Mundharmonika machen den Track zu einem Höhepunkt des Longplayers.

Ein weiteres Glanzlicht setzt das wortgewaltige und sich lyrisch überschlagende „If I Was The Priest“, das wie „Songs For Orphans“ in der Mitte der 1960er Jahre entstand. Zu der Zeit war Springsteen mit der mit der Band Castiles unterwegs. Als Live- und Bootleg-Versionen sind die Stücke den Insidern sicherlich geläufig. Die Stimme von Springsteen hat sich im Vergleich zu der Frühzeit seiner Karriere jedoch deutlich verändert und wirkt gereifter.

Springsteen hat die Siebzig mittlerweile überschritten und „Letters To You“ krönt sein bisheriges Alterswerk. Er rockt wie ein junger Mann, aber die Texte und auch die Auswahl der Stücke erscheinen wie eine Retroperspektive. Standen früher der Ausbruch aus dem gewohnten Leben und der Aufbruch zu neuen Ufern thematisch öfter im Zentrum seiner Lyrics, prägen nun Reminiszenzen an vergangene Zeiten und Personen den Inhalt seiner Songs.

In einem lockeren Gespräch mit Stephen Colbert  beschreibt Springsteen das Verhältnis zu seiner Vergangenheit so, als ob er mit seinen jüngeren Ichs in einem Auto sitzt, wobei jedes einmal das Steuer übernimmt. Die Fähigkeit sich in unterschiedliche Gefühls- oder Lebenslagen hineinzuversetzen und diese in Songs und Texte zu kleiden, die ein hohes Identifikationspotential aufweisen, zeichnet den Boss aus.

Bruce Springsteen kann es noch! Auf „Letter To You“ rockt er in typischer Manier kongenial begleitet von der E Street Band. Anders als auf den letzten drei Alben begeistert die Hälfte der Songs auf Anhieb. Da es keine Ausfälle gibt und es für die Titel vom Boss nicht ungewöhnlich ist, dass sie mit der Zeit wachsen, macht man nichts verkehrt, wenn man das Werk durchlaufen lässt und durchlaufen lässt und durchlaufen lässt.

Columbia Records/Sonic Music Entertainment (2020)
Stil: Rock

Tracks:
01. One Minute You’re Here
02. Letter To You
03. Burnin’ Train
04. Janey Needs A Shooter
05. Last Man Standing
06. The Power Of Prayer
07. House Of A Thousand Guitars
08. Rainmaker
09. If I Was The Priest
10. Ghosts
11. Song For Orphans
12. I’ll See You In My Dreams

Bruce Springsteen
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Columbia/Sony Music

Garry Tallent – More Like Me – CD-Review

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Review: Michael Segets

Garry Tallent hat als Gründungsmitglied der E Street Band längst einen festen Platz in der Musikgeschichte. Schon vorher begleitete er als Bassist Bruce Springsteen. Sein musikalisches Schaffen auf die Rolle als beständiger – eher unauffälliger – Sidekick vom Boss zu beschränken, wäre aber nicht angemessen. Tallent arbeitete nämlich auch mit anderen Weltstars zusammen wie Sting oder Ian Hunter.

Ebenso spielte er mit Musikgrößen, die der Sound-Of-South-Fangemeinde vielleicht näher stehen: Steve Earle, Emmylou Harris, Buddy Miller und Jim Lauderdale sind einige von ihnen. Für Julian Dawson, Steve Forbert, Duane Jarvis und Greg Trooper produzierte er Alben.

Obwohl nahezu seit einem halben Jahrhundert im Musikgeschäft involviert, stellt „More Like Me“ nach „Break Time“ (2016) erst das zweite Solowerk von Garry Tallent dar. Mit seinem Debüt zeigt sich der Musiker in Interviews nicht hundertprozentig zufrieden, obwohl dafür gar kein Grund besteht. Bereits auf „Break Time“ performt Tallent guten Rock’n Roll. Dahingehend hat sich auch bei „More Like Me“ nichts geändert. Gleichgeblieben ist ebenso seine angenehme, leicht angeraute Stimme.

Neu ist, dass er sich auf der aktuellen CD konsequent konzeptionell an dem Rock’n Roll der sechziger Jahre orientiert. Für diesen schlägt Tallents Herz, was seine riesige Sammlung alter LPs und Singles beweist.

Der Bezugspunkt zu dieser Dekade scheint bereits beim Opener „Above the Rain“ durch, wird aber beim folgenden „If It Ain’t One Thing (It’s Another)“ ganz offensichtlich. Die für diese Zeit typische Begleitung durch Keyboards und Harmoniegesängen findet sich nicht nur hier, sondern auch bei anderen Songs (u. a. „Tell The Truth“, „No Sign of Love“). Auf „Too Long“ wird sie zusätzlich durch hand clapping stilgerecht angereichert.

Vom Songwriting bewegen sich die Titel, die im Schnitt bei circa drei Minuten liegen, ebenso in klassischen Bahnen. Ohne Experimente oder lange Instrumentalphasen rockt Tallent im Wohfühlbereich. Lediglich mit „Oh, No (Another Song)“ streut er eine Ballade mit Akkordeon ein, das im Wechselspiel mit der Gitarre das Stück trägt.

In der zweiten Hälfte des Albums wird der Gitarreneinsatz forciert. Dort finden sich auch die stärksten Stücke. „Sinful“ weist klasse Anleihen am Bluesrock auf. „Dirty Rotten Shame“ und „One Good Reason“ gehen direkt ins Ohr. Höhe- und Abschlusspunkt stellt schließlich der Titeltrack „More Like Me“ dar.

„More Like Me“ macht Lust, mehr von Garry Tallent zu hören. Der Longplayer ist eine runde Sache geworden, auf dem Tallent seine favorisierte Musik aus der Hochzeit des Rock’n Roll feiert. Der fast siebzigjährige Musiker beweist damit erneut, dass er mehr ist als eine Fußnote zu Bruce Springsteen.

An dieser Stelle sei allerdings eine Fußnote angeführt: Viele Dank an Dino Gollnick von Redeye Worldwide, der schnell und unkompliziert die Besprechung ermöglichte!

D’Ville Record Group/Redeye Worldwide (2019)
Stil: Rock

Tracks:
01. Above the Rain
02. If It Ain’t One Thing (It’s Another)
03. Oh, No (Another Song)
04. Tell the Truth
05. Too Long
06. No Sign of Love
07. Sinful
08. Dirty Rotten Shame
09. One Good Reason
10. More Like Me

Garry Tallent
Redeye Worldwide