American Aquarium – Chicamacomico – CD-Review

Review: Michael Segets

„In meiner sechzehnjährigen Karriere war ich noch nie stolzer auf eine Reihe von Songs, weder textlich noch stilistisch. Sie haben Gewicht, aber sie sind nicht beschwert. Es ist eine traurige Platte, die einem ein gutes Gefühl gibt.“ Mit diesen Worten beschreibt BJ Barham sein neues Album „Chicamacomico“, das er mit seiner Band American Aquarium einspielte. Nun ist immer Vorsicht geboten, wenn Musiker über ihr aktuelles Werk sprechen. Tendenziell ist es stets das beste ihrer Karriere. Im Falle von „Chicamacomico“ bin ich aber geneigt, der Einschätzung von Barham zu folgen.

Mit der CD legt American Aquarium den insgesamt stärksten Longplayer der Bandgeschichte vor, bei dem jeder Song ein ziemlich hohes Niveau hält. Auf ihren früheren Veröffentlichungen finden sich zwar herausragende Songs, die als Einzeltitel die neuen Tracks toppen, als Gesamtwerk ist „Chicamacomico“ allerdings die erste Wahl aus dem Bandkatalog, auch wenn es mit seinen zehn Tracks nur auf eine gute halbe Stunde Spielzeit kommt.

Die Songtexte handeln von Verlust, Trennung und Abschied. Jede Textzeile wirkt authentisch und persönlich. Die aufgegriffenen Situationen, wie beispielsweise der Tod von Familienangehörigen oder das Ende von Beziehungen, durchlebt wohl jeder Mensch, daher haben die Texte etwas allgemeingültiges. Die Gefühle und Gedanken, an denen uns Barham teilhaben lässt, zeugen von einer hohen Sensibilität und einer schonungslosen Reflexivität. Diese wird beispielsweise bei „Little Things“ deutlich, wenn er davon singt, wie sich sein Selbstverständnis im Laufe der Zeit wandelte. Verstand er sich früher als Musiker mit Familie, fühlt er sich nun als Vater und Ehemann, der Musik macht. In den nuancierten Lyrics liegt ein Grund, warum Barham zu den besten Songwritern seiner Generation zählt.

Die Kraft der Musik, die helfen kann, mit dem Leiden an dem Schicksal umzugehen, beschwört er beim abschließenden „All I Needed“. Der Schlusstrack ist zugleich das rockigste Stück auf der CD. Bei „Built To Last“ schlagen American Aquarium ebenfalls kräftigere Töne an, ansonsten bewegt sich das Album in ruhigen Gefilden. Nicht nur thematisch, auch musikalisch stellt sich „Chicamacomico“ daher als sehr homogen dar. Die einzelnen Songs bleiben dennoch gut unterscheidbar, was vor allem an den eingängigen und ausgefeilten Refrains liegt. Unterstützung beim Songwriting holte sich Barham bei Lori McKenna und Hayes Carll.

Jeder Titel entwickelt seinen eigenen Reiz, der mit mehrmaligen Hören noch wächst. Daher bleibt es eigentlich überflüssig, einzelne hervorzuheben. Bei den ersten Durchläufen fallen „Little Things“ und „Wildfire“ auf. Mittlerweile sprechen mich der Titeltrack sowie „The First Year“ besonders an. Bei dem vorangegangenen Album „Lamentations“ (2020) fuhren American Aquarium bereits die Country-Einflüsse zurück. Auf „Chicamacomico“ sind sie minimiert – am deutlichsten noch bei „Just Close Enough“ durchscheinend – und auch die Pedal Steel ist insgesamt nicht mehr so dominant wie auf einigen früheren Werken. Gesanglich zeigt sich Barham auf der Höhe und setzt mit ihm überraschende Akzente („The Hardest Thing“).

Das Line-Up von American Aquarium weist wenig Kontinuität auf. Als derzeitige Mitglieder begleiten Zack Brown (Klavier), Bill Corbin (Bass), Colin DiMeo (Gitarre), Ryan Johson (Gitarre), Kevin McClain (Schlagzeug) und Whit Wright (Pedal Steel) Barham bei seinem Bandprojekt. Brad Cook löst Shooter Jennings, der beim sozialkritischen „Lamentations“ mitarbeitete, als Produzent ab.

Mit „Chicamacomico“ ist American Aquarium, der Band von BJ Barham, ein Geniestreich gelungen. Wie das Cover zunächst unscheinbar wirkend entwickelt jeder einzelne Song bei näherer Betrachtung Tiefe. Trotz der schweren Thematik, die um Verluste kreist, hat das Werk eine reinigende und befreiende Wirkung jenseits aller Durchhalteparolen. Die Konstanz der Songqualität macht „Chicamacomico“ zum bislang gelungensten Longplayer von American Aquarium und wahrscheinlich auch zum besten Americana-Album dieses Jahres.

Losing Side Records – Thirty Tigers/Membran (2022)
Stil: Americana

Tracks:
01. Chicamacomico
02. Little Things
03. Just Close Enough
04. The First Year
05. Built To Last
06. Wildfire
07. The Things We Lost Along The Way
08. Waking Up The Echoes
09. The Hardest Thing
10. All I Needed

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