Welch eine positive Überraschung! Kellie Pickler vollzieht mit ihrem 3. Album „100 Proof“ eine Wende um 180 Grad, d.h. vom charttauglichen Countrypop zum ernsthaften Traditional Country im Stile der großen Diven – und sie meistert das tatsächlich mit Bravour (sie hat ja nie verhehlt, ein großer Dolly Parton-Fan zu sein)! Sie folgt sie ihrem Herzen und legt damit nun ihre endgültige Reifeprüfung als „genuine recording artist“ ab.
Die aus North Carolina stammende Pickler, teilweise durch ziemlich peinliche Patzer in Interviews zum naiven Blondchen abgestempelt, hat fast vier Jahre ins Land ziehen lassen, um sich dem aktuellen Album zu widmen. In dieser Zeit lernte sie den Musiker, Singer/Songwriter Kyle Jacobs kennen und lieben und ist auch mit ihm seit einem knappen Jahr verheiratet. Und der scheint einen ziemlich positiven Einfluss auf die mittlerweile 25-jährige, zudem noch aus schwierigen Familienverhältnissen stammende Ex-American Idol-Finalistin (sie belegte seiner Zeit Platz 6), auszuüben. Er assistierte ihr auf diesem Werk als Co-Writer bei „Mothers Day“, eine autobiografisch anmutende, nur mit Akustikgitarre und trauriger Steel begleitete Countryballade, die vermutlich ihr problematisches Verhältnis zu ihrer Mutter aufarbeitet.
Gleiches gilt für das abschließende „The Letter (to Daddy)“ (diesmal allerdings, wie es der Titel schon andeutet, an die Adresse des Vaters gerichtet), das ebenfalls recht sparsam, nur mit Akustikgitarre untermalt, daherkommt, aber voller glaubwürdiger Emotion vorgetragen wird. Hut ab, Kellie Pickler! Große Unterstützung erhält sie auf „100 Proof“ durch die erfolgreiche Songwriterin Leslie Satcher, die sich zum Teil mit Kellie (die ist immerhin auch in sechs Stücke schreibtechnisch involviert), aber auch mit anderen Co-Autoren für den Löwenanteil der Stücke verantwortlich zeichnet. Schon der Titel des Openers „Where’s Tammy Wynette“ gibt die Richtung des gesamten Albums vor.
Kellie, immer noch mit einer recht juvenilen, zierlichen Stimme (teilweise im Stile der Parton) ausgestattet, darf sich zu dem meist traditionell gehaltenen instrumentalen Rahmen, geschaffen von durch die Bank exklusiven Nashville-Musikern wie Chad Cromwell, Greg Morrow, Richard Bennett, Glen Duncan, Rob McNelley, Randy Scruggs, Ilya Toshinsky, Paul Franklin etc., nach dem Muster ihrer Vorbilder gesangstechnisch austoben und das passt richtig gut. Die klar gespielte Akustikgitarre und die Steel in allen ihren Facetten geben in guter alter Country-Tradition neben der E-Gitarre, und Tupfern von Mandoline („Unlock That Honky Tonk“), Banjo („Little House On The Highway“) oder Piano („Long As I Never See You Again“) meist unangefochten den Ton an.
Farbe ins Spiel kommt immer dann, wenn Pickler kleine Abstecher unternimmt (die aber immer in Einklang mit dem traditionellen Grundgerüst des Werkes bleiben), wie beim swampigen, in teilweise schon fast grassiger Manier dahinstampfenden „Unlock That Honky Tonk“, rotzig frech daherkeift, sich wunderbar einfühlsam beim melodischen „Rockaway (The Rockin’ Chair Song)“ (atmosphärisch – herrlich mit Fiddle, Mandoline und Banjo locker instrumentiert, dezentes Seventies-Flair) gibt oder beim wohl überragenden Track des Albums, dem Titelstück „100 Proof“ (so ein wenig mit „The Thunder Rolls“-Anstrich) eine emotionale Gesangsmeisterleistung zum Besten gibt. Klasse!
Mit „100 Proof“ hat Kellie Pickler einen Wandel in ihrer Karriere eingeläutet, den man sicherlich so nicht vermutet hätte. Sie wirkt gereift und erscheint auf diesem Werk auch absolut glaubwürdig und könnte glatt zu eine der Überraschungen des noch jungen Jahres 2012 avancieren. Eine fantastische Vorstellung.
19 Recordings / BNA Records (2011)
Stil: New Country
01. Where’s Tammy Wynette
02. Unlock That Honky Tonk
03. Stop Cheatin‘ On Me
04. Long As I Never See You Again
05. Tough
06. Turn On The Radio And Dance
07. Mother’s Day
08. Rockaway (The Rockin‘ Chair Song)
09. Little House On The Highway
10. 100 Proof
11. The Letter (To Daddy)