Melissa Etheridge / 4th Street Feeling – Deluxe-Edition – CD-Review

Ich hatte zwar nach meinem ersten Hördurchgang schon eine gewisse Vorahnung, dass Melissa Etheridges neues Werk „4th Street Feeling“ kontroverse Reaktionen bei ihren Fans auslösen würde. Aber dass da dabei fast entweder nur absolut positive Statements oder im anderen Extrem Äußerungen wie »völlig daneben«, »Desaster« (in Anspielung auf Track sieben dieser CD) herauskommen würden, hat mich dann doch etwas überrascht.

Ob es meiner zunehmenden Altersweisheit geschuldet ist (der intensive Zuwachs des Grauanteils in einer Haarpracht in den letzten Jahren könnte ein Indiz dafür sein…), dass meine Beurteilung etwas entspannter und differenzierter ausfällt, lasse ich mal dahin gestellt. Aus meiner Sicht liegt die Wahrheit irgendwo mittendrin.
Obwohl ich zu der Künstlerin nie die ganz große Beziehung entwickelt habe, stelle ich fest, dass ich doch eine stattliche Anzahl ihrer musikalischen Outputs besitze, ihre ersten beiden Werke (aus der Zeit ihres kometenhaften Einstiegs ins Musikbusiness) sogar noch als LP. 1992 (ist das schon wieder so lange her?) nutze ich dann die Gelegenheit nach ihrer starken Scheibe „Skin“, sie mir mal leibhaftig in der Düsseldorfer Philipshalle im Rahmen ihrer „Live And Alone-Tour anzuschauen und war sichtlich beeindruckt von ihrem energiegeladenen und – für eine reine Soloperformance – ziemlich unterhaltsam gestalteten Auftritt.

Ich besorgte mir natürlich die kurz darauf folgende DVD und dann noch ihr „Lucky“-Album (1994), danach habe ich sie musikalisch ein wenig aus den Augen verloren. Ich habe natürlich ihre Krebserkrankung mitbekommen und mich gefreut, dass sie die Sache, so wie es übermittelt wurde, als geheilt geltend, überstanden hat. Sie ist halt eine überaus starke (nach meiner subjektiven Einschätzung aber auch recht schwierige und sehr auf sich fixierte) Persönlichkeit, wie es nicht nur der entschlossene Blick auf dem Cover des neuen Silberlings „4th Street Feeling“ vermuten lässt.

Ich halte die Deluxe-Version in den Händen (ergänzt um drei Bonus-Songs) und bin zunächst von der wuchtigen Aufmachung (inkl. des 28-seitigen eingesteckten Booklets, beindruckt. Sieht schon klasse aus, wenn man das Teil auseinander klappt und Frau Etheridge mit einem Golden Retriever vor einem 88er Delta (mit seiner ganzen Länge) posieren sieht. Das umfangreich bebilderte Heftchen beinhaltet alle Texte und einige handschriftliche Notizen Melissas zum Titeltrack, so dass man nachträglich ein wenig an der Intention und Entstehung des Songs teilhaben kann.

Laut eigener Aussage der 1961 geborenen, in Leavenworth, Kansas, aufgewachsenen Künstlerin, führt das Werk sie zu Ihren Anfängen zurück und arbeitet dabei auch so ein bisschen ihre Jugenderinnerungen auf, eine Phase, in der noch nichts von ihrem späteren Erfolg zu erahnen gewesen sei. Auf der 4th Street, der Hauptader ihres Geburtsorts (heute Highway 7), hing sie in ihrer Jugend mit ihren Bekannten wohl regelmäßig ab. Und so offerieren die beiden eröffnenden, geographisch betitelten, sehr schönen Lieder auch direkt den Bezug zur Intention des Werkes (das eingängige „Kansas City“ mit tollem Harp-Solo). Ein starker Auftakt – die Etheridge, wie man sie kennt und liebt.

Melissa hat übrigens alle Gitarrenparts im Alleingang bewältigt (eine absolut neue Herausforderung für sie) und den Rest durch die Mitglieder ihrer Tourband (Blair Sinta, Brett Simmons, Zac Rae) erledigen lassen. Für „Falling Up“ nutzte sie sogar eine Banjitar (sie hatte sie sich im Gutdünken, ein Banjo erworben zu haben, zugelegt).
Weitere starke Tracks wie „Disaster“, „I Can Wait“ oder „You Will“, die von der Melodik her mit auf „Skin“ hätten ihren Platz finden können, zählen zu meinen Favoriten.

Aber auch Songs wie das dezent Rockabilly-behaftete „Shout Now“, das mit schönen Stimmungswechseln versehene „The Shadow Of A Black Crow“, das cool groovende „Be Real“ oder das rockige „Sympathy“ (stoneskes Riff, hier hätte auch noch ein schönes HT-Piano ganz gut gepasst) sowie der relaxte, textlich toll konzipierte Schwofer „Rock And Roll Me“ wissen zu überzeugen.

Kommen wir zu den Sachen, die vermutlich der Auslöser für die zum Teil überzogene Kritik in negativer Hinsicht verantwortlich sein könnten. Mit „Enough Rain“, „A Sacred Heart“, und am Ende „The Beating Of My Heart“ sowie „Change The World“ (da passt der Refrain aus meiner Sicht so gar nicht zu den Strophen) gibt es hier sehr anstrengende, z. T. aggressiv und ein wenig psychedelisch angehauchte (was ja nicht unbedingt jedermanns Sache ist) und nicht gerade glücklich gewählte Phasen, die den Fluss und den Gesamtkontext des Albums stören.

Ich hätte an Ihrer Stelle im Hinblick auf 15 Songs mich doch eher für gelernte und eine etwas breitgefächerte Anzahl von Studiomusikern entschieden, die dem Werk, deutlich mehr Volumen und Abwechslung gegeben hätten. So ist dem hauptverantwortlichen Produzenten Jacquire King (Kings Of Leon, Norah Jones) zwar eine schön klare und künstlerbezogene (Etheridges einzigartiger Gesang und ihr Gitarrenspiel werden sehr transparent in den Mittelpunkt gestellt, vermutlich war das auch ihr Wunsch), rufen aber trotz der recht unterschiedlich gestalteten Lieder eine gewisse Monotonie (gerade was ihre Gitarrenkünste betrifft – oft sehr gleich klingende Intros) und Langatmigkeit hervor. Ich hätte hier persönlich eher zu einer Umsetzung durch die Nashville–Studiomusiker-Gilde, samt eines ihrer Erfolgsproduzenten, tendiert, die mit ihrem Können und ihrer spielerischen Kreativität für die Ausstaffierung solcher, eher ‚roh‘ klingender Songs prädestiniert gewesen wären.

Aber nichtsdestotrotz stehen auf „4th Street Feeling“ aus meiner Sicht elf gute Tracks vier, nicht ganz so prickelnden Sachen gegenüber, was im Prinzip zu einem überwiegend zufriedenstellenden Gesamtfazit führt. Mir hat die Begegnung mit Melissas Musik jedenfalls mal wieder ganz gut zugesagt. Imposant, wie bereits erwähnt, die tolle visuelle Aufmachung der Scheibe in der Deluxe-Version! Trotzdem bleibt „Skin“ dann doch weiterhin mit Abstand meine Lieblingsplatte von ihr.

Island Records (2012)
Stil:  Rock & More

01. Kansas City
02. 4th Street Feeling
03. Falling Up
04. Shout Now
05. The Shadow Of A Black Crow
06. Be Real
07. A Disaster
08. Sympathy
09. Enough Rain
10. A Sacred Heart
11. I Can Wait
12. Rock And Roll Me
13. You Will
14. The Beating Of Your Heart
15. Change The World

Melissa Etheridge
Melissa Etheridge bei Facebook
Universal Music

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert